Antikörper Lecanemab: Wie er wirkt und wem er helfen kann Von Annett Stein, dpa

Erstmals steht in der EU eine Therapie gegen Alzheimer vor der
Zulassung. Sie ist allerdings nur für einen kleinen Teil der
Patienten sinnvoll. Die Behandlung ist zudem aufwendig und riskant.

Amsterdam (dpa) - Allein in Deutschland sind etwa eine Million
Menschen von Alzheimer betroffen. Die europäische
Arzneimittel-Behörde EMA hat für die EU nun erstmals grünes Licht f
ür
eine Alzheimer-Therapie gegeben, die auf zugrundeliegende
Krankheitsprozesse abzielt. Sie empfiehlt die Zulassung des
Antikörpers Lecanemab zur Behandlung von leichter kognitiver
Beeinträchtigung (Gedächtnis- und Denkstörungen) oder leichter Demenz

in einem frühen Stadium der Alzheimer-Krankheit.

Warum ist die Entscheidung so besonders?

Bisherige Alzheimer-Therapien behandeln nur Symptome der Krankheit,
nicht ursächliche Prozesse im Gehirn. Das ist bei Lecanemab anders:
Der Antikörper richtet sich gegen Amyloid-Ablagerungen im Gehirn und
soll dadurch den Verlauf der Krankheit verlangsamen. Um Heilung oder
Verbesserung geht es allerdings auch bei diesem Wirkstoff nicht, ein
solches Mittel ist weiterhin nicht in Sicht.

Hauptmaßstab für die Wirksamkeit war die Veränderung der kognitiven
und funktionellen Symptome nach 18 Monaten, die anhand einer
Demenzbewertungsskala gemessen wurde. Die Skala reicht von 0 bis 18,
wobei höhere Punktzahlen eine stärkere Beeinträchtigung anzeigen. Mit

Lecanemab behandelte Patienten wiesen nach 18 Monaten im Mittel einen
etwas geringeren Anstieg des Wertes auf (1,22 gegenüber 1,75). Das
deute auf einen langsameren kognitiven Abbau hin, teilte die EMA mit.

Warum können nicht alle Alzheimer-Patienten Lecanemab bekommen?

Haben die Amyloid-Plaques schon irreversible Schäden im Gehirn
angerichtet, nützt ihre Entfernung nichts mehr. Als frühe
Alzheimer-Phase sind Johannes Levin vom Deutschen Zentrum für
Neurodegenerative Erkrankungen (DZNE) zufolge die ersten drei Jahre
zu werten. Das betreffe in Deutschland aktuell vermutlich mindestens
250.000 Menschen. In dieser Frühphase kommt ein Erkrankter noch sehr
gut allein klar, merkt aber zunehmend, dass sein Gedächtnis
nachlässt.

Bei der EMA-Empfehlung gibt es allerdings noch eine weitere
Einschränkung: Das Mittel solle nur für Alzheimer-Patienten verwendet
werden, die nur eine oder keine Kopie von ApoE4, einer bestimmten
Form des Gens für das Protein Apolipoprotein E, haben. Bei ihnen ist
die Wahrscheinlichkeit für bestimmte schwerwiegende Nebenwirkungen -
Schwellungen und Blutungen im Gehirn - demnach geringer als bei
Menschen mit zwei ApoE4-Kopien.

Menschen mit nur einer oder keiner ApoE4-Kopie machten je nach Region
etwa zwei Drittel bis 80 Prozent der Alzheimer-Patienten aus,
erklärte Gabor Petzold, Direktor der Klinischen Forschung am DZNE. In
Deutschland seien es ungefähr 80 Prozent.

Hinzu kommen weitere einschränkende Voraussetzungen - insgesamt kommt
Experten zufolge nur ein kleiner Bruchteil der Alzheimer-Erkrankten
für eine Antikörpertherapie infrage.

Geht es jetzt direkt los mit solchen Behandlungen?

Nein. Zu bedenken sei, dass erst noch einige Schritte bis zu einem
Einsatz in Deutschland anstünden, sagte Petzold: Die Zulassung durch
die EU-Kommission stehe noch aus, zudem sei der Hersteller zum
Beispiel verpflichtet worden, ausführliche Handreichungen und
Schulungen unter anderem für Ärzte auszuarbeiten und ein
Beobachtungsregister anzulegen.

Es werde noch einige Monate dauern, bis das Mittel wirklich
eingesetzt werden könne. Bei Patienten müsse Alzheimer wiederum erst
gesichert durch Biomarker-Tests nachgewiesen sein, gefolgt von einem
genetischen Test. Infrage komme die Therapie zudem wirklich nur für
Betroffene mit einer Vorstufe oder einem sehr frühen Stadium der
Erkrankung.

In den nächsten Tagen sei aber bereits mit sehr vielen Anfragen von
Betroffenen und Angehörigen bei Hausärzten, Alzheimer-Zentren und
Gedächtnissprechstunden zu rechnen, sagte Petzold. Levin befürchtet
einen Ansturm Zehntausender Menschen schon bei kleinsten
Vergesslichkeiten. Für die Diagnosezentren wäre eine solche Flut von
Abklärungen kaum zu stemmen, sagte er.

Der Neurologe Özgür Onur von der Uniklinik Köln geht zudem davon aus,

dass er nur verhältnismäßig wenig Erkrankte pro Jahr mit der neuen
Therapie behandeln kann, da die häufigen Gaben eine große
Herausforderung darstellen. «Ich gehe bei uns in Köln von 50 bis 100
Patienten aus, die wir pro Jahr behandeln können. Und wir sind ein
großes Zentrum.»

Hatte die EMA Lecanemab nicht eigentlich schon abgelehnt?

Ja. Im Juli hatte die EU-Arzneimittelbehörde noch entschieden, dass
das Risiko schwerer Nebenwirkungen des Antikörpers höher zu bewerten
sei als die erwartete positive Wirkung. Das Unternehmen Eisai hatte
daraufhin eine zweite Prüfung beantragt.

Dabei kam der Humanarzneimittelausschuss (CHMP) der EMA nun zu dem
Schluss, dass in der begrenzten Population, die bei der erneuten
Prüfung untersucht wurde, der Nutzen von Lecanemab bei der
Verlangsamung des Fortschreitens der Krankheitssymptome größer ist
als die Risiken. Bei der ersten Prüfung waren noch keine
Untergruppenanalysen berücksichtigt worden, sondern alle Patienten.

Die für die Zulassung zuständige EU-Kommission folgt gewöhnlich dem
Votum der Behörde. Hersteller von Lecanemab sind die
Pharmaunternehmen Eisai (Japan) und Biogen (USA).

Warum der Bezug auf eine Untergruppe?

Bei den mit Lecanemab behandelten Patienten mit nur einer oder keiner
ApoE4-Kopie traten der EMA zufolge bei 8,9 Prozent Ödeme im Gehirn
auf, im Mittel aller Patienten bei 12,6 Prozent. Mikroblutungen gab
es bei 12,9 Prozent der Patienten mit nur einer oder keiner
ApoE4-Kopie, verglichen mit 16,9 Prozent der breiteren Population.
Bei den Patienten mit nur einer oder keiner ApoE4-Kopie, die mit
Placebo (einer Scheinbehandlung) behandelt wurden, lagen die Werte
für Schwellungen bei 1,3 Prozent und für Blutungen bei 6,8 Prozent,
wie es von der EMA hieß.

Wie gefährlich sind solche Ödeme und Mikroblutungen?

Die erfassten Schwellungen und Mikroblutungen im Gehirn blieben
überwiegend ohne Symptome und wurden zumeist erst durch bildgebende
Verfahren wie Magnetresonanztomographie (MRT) bemerkt. Insbesondere
bei wiederholtem Auftreten drohen jedoch eine verminderte
Gehirnleistung oder Koordinationsschwierigkeiten. Mikroblutungen
gelten zudem als Risikofaktor für größere, potenziell
lebensbedrohliche Hirnblutungen.

Die EMA betont darum in ihrer Stellungnahme, dass es zwingend
Maßnahmen zur Risikominimierung geben müsse. Vor Beginn der
Behandlung und vor der 5., 7. und 14. Lecanemab-Dosis müssen bei den
Patienten demnach MRT-Scans durchgeführt werden, zusätzliche Scans
bei Warnzeichen wie Kopfschmerzen, Sehstörungen und Schwindel. Auch
die Behandlung selbst ist aufwendig: Lecanemab wird als intravenöse
Infusion alle zwei Wochen verabreicht.

Ist Lecanemab das einzige ursächlich wirkende Mittel?

Nein. Der Antikörper Aducanumab, entwickelt vom
US-Biotech-Unternehmen Biogen, wurde von der EMA Ende 2021 nicht zur
Zulassung empfohlen: Der vermeintliche klinische Effekt des
Medikaments sei fraglich. Ein weiterer Zulassungsantrag wurde vom
US-Pharma-Konzern Eli Lilly für den Wirkstoff Donanemab gestellt.
Dieses Verfahren läuft noch.

Die US-Arzneimittelbehörde FDA ließ Aducanumab 2021 zur
Alzheimer-Therapie zu, Biogen stoppte die Produktion Anfang des
Jahres allerdings wieder. Anfang 2023 kam in den USA Lecanemab auf
dem Markt. Donanemab wurde von der FDA am 2. Juli dieses Jahres
zugelassen. Alle drei Antikörper haben einen ähnlichen
Wirkmechanismus.

Gibt es Bedenken?

Im Fachjournal «The BMJ» äußerten Experten kürzlich Kritik an den

FDA-Entscheidungen. Die Medikamente zeigten nur eine unmerkliche
Verlangsamung der Demenz, dagegen jedoch schwerwiegende unerwünschte
Nebenwirkungen, den Tod eingeschlossen, heißt es. Fragwürdig seien
auch die finanziellen Verbindungen von Mitgliedern des
FDA-Beratungsausschusses zu Pharma-Konzernen.

Kritik gibt es in «The BMJ» auch an den Aussagen der Hersteller, das
Fortschreiten der Alzheimer-Krankheit werde deutlich verlangsamt - im
Vergleich zu einer Placebotherapie je nach Teilgruppe um bis zu 35
Prozent. «Das ist eine irreführende Aussage», wird der Neurologe
Alberto Espay von der Universität von Cincinnati speziell zu den
Donanemab-Daten zitiert. «Das ist ein relativer Unterschied, der
einen sehr kleinen absoluten Unterschied in eine Zahl verwandelt, die
beeindruckend erscheint.»

Fraglich ist, wie alltagsrelevant die messbare leichte Verzögerung
des Krankheitsverlaufs überhaupt ist. «Sobald das Vollbild einer
Alzheimer-Erkrankung vorliegt, sind die statistisch beschriebenen
Effekte für den Patienten und sein Umfeld zumeist nicht mehr
wahrnehmbar», sagte Walter Schulz-Schaeffer vom Universitätsklinikum
des Saarlandes in Homburg. «Dem müssen die Nebenwirkungen des
Medikaments entgegengesetzt werden.»

Erwähnt wird im Fachjournal «The BMJ» zudem die in den Studien zu den

Wirkstoffen gemachte Beobachtung, dass die Anti-Amyloid-Medikamente
das Gehirn merklich schrumpfen lassen. Was es damit auf sich hat, ist
bisher noch vollkommen unklar.

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