Warum ein mutmaßlicher Mörder wie ein Held gefeiert wird Von Magdalena Tröndle und Julia Naue, dpa

Ein kaltblütiges Verbrechen mitten in Manhattan wühlt die USA auf.
Aber nicht nur das: Die Tat legt auch die Wut und Verzweiflung vieler
Amerikaner über das Gesundheitssystem offen.

Washington (dpa) - Noch bevor die Polizei Luigi M. festnahm, wurde
der 26-Jährige im Internet als «Robin Hood» des 21. Jahrhunderts
gefeiert. Und das, obwohl er den Chef des milliardenschweren
US-Versicherers United Healthcare mitten in New York erschossen haben
soll. Schnell wich das Entsetzen über die Tat der geballten Wut
vieler Menschen auf das amerikanische Gesundheitssystem und die
Versicherungsbranche in den USA. Und Luigi M., der des Mordes
angeklagt ist, wurde in Windeseile zum Helden stilisiert. 

T-Shirts, Hoodies, Kaffeetassen und Schnapsgläser mit dem markanten
Gesicht des wegen Mordes Angeklagten gibt es mittlerweile im Internet
zu kaufen. Die Polizei äußerte die Befürchtung, dass Luigi M. als
«Märtyrer und Vorbild» gefeiert werden und Nachahmer inspirieren
könnte. Der Gouverneur von Pennsylvania, Josh Shapiro, warnte davor,
den Täter zu glorifizieren und bezeichnete die Aufmerksamkeit in dem
Fall, vor allem im Internet, als «zutiefst beunruhigend, da einige
den Mörder feiern wollten, anstatt ihn zu verurteilen». 

Das Netz folgt eigenen Gesetzmäßigkeiten, wenn es darum geht, was zu
einem Hype wird. Schnell werden Ereignisse, Personen und Narrative in
kürzester Zeit populär, entwickeln eine Eigendynamik - unabhängig
davon, wie sie in der analogen Welt wahrgenommen werden. Dennoch hat
die Tötung des Versicherungschefs Brian Thompson die USA nicht nur
aufgewühlt, sondern auch die Verzweiflung über das Gesundheitssystem
offengelegt. Eine Debatte entbrannte. Woher kommt die Wut?

Enorme Kosten für Behandlungen

Das Gesundheitssystem ist stark privatwirtschaftlich organisiert.
Krankenhäuser und Versicherungen in den USA sind größtenteils in
privater Hand. Angebot und Nachfrage spielen eine zentrale Rolle. Es
gibt keine allgemeine, staatlich organisierte Krankenversicherung wie
in vielen europäischen Ländern. Stattdessen basiert das System auf
einem Mix aus privaten Versicherungen und öffentlichen Programmen für
bestimmte Bevölkerungsgruppen. 

Die USA haben dem Gesundheitsdaten-Tracker Peterson-KFF zufolge die
höchsten Pro-Kopf-Ausgaben für Gesundheit weltweit. Dies liegt an
hohen Medikamentenpreisen, Arzthonoraren und Verwaltungskosten. Der
Zugang zu medizinischer Versorgung ist stark abhängig von der
Versicherung. Rund acht Prozent der Bevölkerung sind offiziellen
Angaben zufolge trotz Fortschritten nicht versichert. Es gibt eine
große Ungleichheit: Einkommensschwächere Gruppen haben oft
schlechteren Zugang zu guten Gesundheitsleistungen. 

Die medizinische Versorgung in den USA gilt als technisch
fortschrittlich, mit Spitzenforschung und -technologie. Gleichzeitig
gibt es deutliche Qualitätsunterschiede je nach Region, Krankenhaus
und Versicherungsstatus - viele Menschen fallen durchs Raster und
bekommen nicht die Hilfe, die sie brauchen. 

Was bedeutet das im Alltag?

* Knüpfung an Arbeitgeber: In den USA erhalten Angestellte ihre
Krankenversicherung häufig über ihren Arbeitgeber, der einen Teil der
Kosten übernimmt. Die Leistungen variieren, da die Unternehmen mit
unterschiedlichen Versicherungsfirmen kooperieren. Bei Jobwechsel
oder Arbeitslosigkeit fällt die Krankenversicherung entsprechend weg.
* Hohe Zuzahlungen: Der Eigenanteil der Versicherten für
Behandlungen oder Medikamente ist in den USA häufig sehr hoch. Auch
die Selbstbeteiligung, die Versicherte pro Jahr aus eigener Tasche
zahlen müssen, bevor die Versicherung übernimmt, beträgt in der Regel

mehrere Tausend US-Dollar.
* Keine freie Arztwahl: Viele Versicherungen arbeiten mit einem
Netzwerk von Ärztinnen und Ärzten zusammen. Für Behandlungen in
anderen Praxen übernimmt die Versicherung nur einen geringen Teil der
Kosten - oder deckt diese gar nicht ab.
* Vorab-Genehmigungen für bestimmte Behandlungen: Besonders teure
Behandlungen wie Operationen oder MRT-Scans aber auch Hilfsmittel wie
Prothesen müssen vorab von der Krankenkasse genehmigt werden. Dieser
Prozess kann sich hinziehen - wichtige Behandlungen werden somit
verzögert. Zahlreiche Versicherungen setzen bei der Beantwortung
dieser Anträge Künstliche Intelligenz ein.
* Komplizierte Verträge: Dadurch, dass es so viele unterschiedliche
Versicherungsanbieter mit diversen Angeboten gibt, kann es schwer
sein, den Überblick über die versicherten Leistungen zu behalten.
Außerdem decken Standardversicherungen häufig keine Zahnbehandlungen
ab, auch Hilfsmittel wie Hörgeräte oder Brillen werden oftmals nicht
gezahlt.

Schuldenberg in Milliardenhöhe

Auf Patronenhülsen, die am Tatort sichergestellt worden waren,
standen die Wörter: «deny» (ablehnen), «defend» (verteidigen) und

«depose» (abwickeln). Ermittler gehen davon aus, dass dies Anlehnung
an einen Spruch sei, mit dem Versicherungskritiker die Strategie der
Firmen beschrieben: «Delay (verzögern), deny, defend». In einem
Manifest schreibt der Festgenommene von Versicherungsunternehmen, die
nur auf Profit ausgerichtet seien und «Parasiten» - United Healthcare
nennt er beim Namen. Die Tat ereignete sich mitten Manhattan - für
viele ein Symbol für den Kapitalismus schlechthin. 

Auch wenn die Ermittlungen andauern: Es deutet sich an, dass der
mutmaßliche Schütze - ein Absolvent einer Eliteuni und Sohn einer
wohlhabenden Familie - es mit seiner Tat gezielt auf die
Versicherungsbranche abgesehen hat. Bei einigen hat er damit offenbar
einen Nerv getroffen. Einer Umfrage des Meinungsforschungsinstitut
Gallup zufolge sind 81 Prozent der Befragten unzufrieden mit den
Kosten für die medizinische Versorgung in den USA. 

Dort ist im Zusammenhang mit medizinischen Behandlungen ein
Schuldenberg in Milliardenhöhe angewachsen. Peterson-KFF zufolge
haben sechs Prozent aller Erwachsenen medizinische Schulden von mehr
als 1.000 US-Dollar, rund ein Prozent der Erwachsenen hat jeweils
mehr als 10.000 US-Dollar. Wegen der hohen Kosten gehen etliche
Menschen erst gar nicht zum Arzt, Krankheiten bleiben unbehandelt.
Viele Menschen sind frustriert, verzweifelt - und wütend.

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