Diphtherie, Masern, Polio - Gefährliche Impflücken entstehen Von Mia Bucher, dpa

Viele Kinder in Deutschland werden nicht rechtzeitig geimpft. Auch
Erwachsene schützen sich nicht ausreichend. Welche Folgen das laut
Experten haben könnte.

Berlin (dpa) - Schutzimpfungen haben viele Erkrankungen wie Masern,
Diphtherie und Polio massiv zurückgedrängt. Millionen Menschen in
Deutschland blieben von schwerer Erkrankung oder gar Tod verschont.
Doch aktuelle Impfquoten etwa für Diphtherie und Polio zeigen: Die
Bereitschaft, sich oder die eigenen Kinder impfen zu lassen,
schwindet zum Teil.

Gegen Polio sind nur 21 Prozent der Einjährigen in Deutschland
vollständig geimpft, wie das RKI berichtete. Und das, obwohl die
Grundimmunisierung bis zu einem Alter von zwölf Monaten abgeschlossen
sein sollte. Versäumte Impfungen werden zwar oft nachgeholt, trotzdem
haben den Fachleuten zufolge nur 77 Prozent der Kinder in einem Alter
von zwei Jahren einen vollständigen Impfschutz.

Bei Diphtherie lag die Quote vollständiger Immunisierung bei Kindern
im Alter von 15 Monaten (Geburtsjahr 2021) zuletzt nur bei 64
Prozent. Eine vollständige Impfung gegen Mumps, Masern und Röteln
erhielten rund 77 Prozent der Zweijährigen des gleichen
Geburtsjahres. Bis zum Schulalter werde die zweite Impfung zwar oft
nachgeholt. Das entspreche aber nicht der Empfehlung, laut der bis
zum Alter von 15 Monaten zweimal geimpft werden sollte.

Vergessenes Leid

 «Ein grundsätzliches Dilemma von Impfungen ist, dass sie Krankheiten

verhindern, die dadurch viele heute nicht mehr kennen», sagte
Reinhard Berner, Vorsitzender der Ständigen Impfkommission (Stiko),
der Deutschen Presse-Agentur. Ein Beispiel sei Diphtherie, einst
«Würgeengel der Kinder» genannt. 1892 seien daran in Deutschland noch

mehr als 50.000 meist junge Menschen gestorben.

Dank der 1913 eingeführten Impfung, die heute zu den
Standardimpfungen bei Säuglingen gehört, ging die Zahl massiv zurück.

Dieses Jahr wurden dem RKI bislang 47 Erkrankungen (Stand 12.
Dezember) gemeldet. Wie Berner erklärt, führte das weitgehende
Verschwinden allerdings auch dazu, dass viele Menschen gar nicht mehr
wissen, wie schmerzhaft und gefährlich diese und andere Krankheiten
sind.

Zu den möglichen Komplikationen der Bakterieninfektion Diphtherie zum
Beispiel gehören Nervenlähmungen sowie potenziell tödliche Lungen-
oder Herzmuskelentzündungen. Polioviren können schwere, bleibende
Lähmungen der Gliedmaßen oder eine tödliche Atemlähmung verursachen
.
Masernviren können zu Lungen- und Hirnentzündungen führen.
Gefürchtete Spätfolge ist die Subakute Sklerosierende Panenzephalitis
(SSPE), eine fast immer tödlich verlaufende Entzündung des Gehirns.

Schwer erreichbare Gruppen

Ein weiteres Problem sei, dass bestimmte Zielgruppen nicht erreicht
würden, sagte Berner. Dazu zählten etwa Menschen aus bildungsfernen
Haushalten oder ohne Deutschkenntnisse. Schwer zu erreichen sind nach
Angaben des Bundesvorsitzenden des Hausärztinnen- und
Hausärzteverbandes, Markus Beier, außerdem Menschen, die keine feste
hausärztliche Anbindung haben.

Die Standardimpfungen für Babys würden im Mittel gut wahrgenommen,
häufig aber zu spät, erklärte Berner, der selbst Kinderarzt ist. Das

sei problematisch, da manche Erkrankungen - zum Beispiel eine
Hirnhaut- oder Kehldeckelentzündung, die durch bakterielle
Infektionen ausgelöst werden - gerade im ersten Lebensjahr besonders
bedrohlich seien. «Wenn wir die besonders Gefährdeten effektiv
schützen wollen, müssen wir ganz früh impfen.»

Rückschritt durch die Pandemie

Und dann war da noch die Corona-Pandemie, die bei einigen Menschen
eine generelle Skepsis gegenüber Impfungen hat heranwachsen lassen,
wie Berner sagte. «Die Pandemie hat uns, was den Impfgedanken
grundsätzlich angeht, wieder weit zurückgeworfen.» 

Es sei Ärzten, Wissenschaftlern und auch der Stiko nicht ausreichend
gelungen, zu vermitteln, dass die Corona-Impfung sehr wohl vor einem
schweren Verlauf, aber nicht generell vor einer Infektion schützt.
Viele Menschen hätten sich gefragt, warum sie Corona bekommen, obwohl
sie zweifach geimpft und geboostert sind - und die Wirksamkeit der
Impfung angezweifelt.

RKI-Angaben zufolge erhielten in der Saison 2023/2024 nur 16 Prozent
der Menschen ab 60 Jahren die Covid-19-Impfung. Bei der Grippe waren
es 38 Prozent.

Corona ist nicht weg

Covid sei immer noch keine normale Erkrankung, warnte der Berliner
Virologe Christian Drosten kürzlich. «Viele Patienten fühlen sich
sehr krank, wenn sie infiziert sind.» Leider gebe es im Internet
viele Desinformationen über die Impfung. «In der Öffentlichkeit
kursiert inzwischen mancherorts die Vorstellung, die Impfung sei
geradezu gefährlich, oder ähnlich gefährlich wie das Virus. Das ist
eine krasse Fehlinformation», so Drosten, Direktor des Instituts für
Virologie der Charité Berlin. 

Die Impfung verursache natürlich Nebenwirkungen, aber diese seien in
der überwältigenden Mehrheit der Fälle gut auszuhalten und
vorübergehend. «Wäre die Impfung so gefährlich wie die Infektion,
dann wäre sie nicht zugelassen und empfohlen», betonte Drosten. 

Hohe Krankheitslast

Nach RKI-Daten lag die geschätzte Zahl der Corona-Erkrankungen in der
Woche vom 2. Dezember bei rund 400 Erkrankungen pro 100.000
Einwohner. Rund 8.600 von 100.000 litten an einer akuten
Atemwegserkrankung. Die Zahl der Erkrankungen liegt dem Institut
zufolge damit auf einem vergleichsweise hohen Niveau. In den zehn
Jahren vor der Pandemie waren es im gleichen Zeitraum nie mehr als
rund 7.500 Atemwegserkrankungen pro 100.000 Einwohner. Nur in der
Saison 2011/2012 waren es mehr (rund 9.100). Im Jahr 2019, vor der
Pandemie, waren es Anfang Dezember zum Beispiel 6.600. 

«Durch die parallele Zirkulation von Influenzaviren, RSV und
Sars-CoV-2 hat sich die Krankheitslast deutlich erhöht, was die große
Bedeutung des saisonalen Vergleichs und der kontinuierlichen
Überwachung unterstreicht», erläuterte das RKI Ende Oktober. Bei
zahlreichen Krankheiten gibt es weiterhin Nachholeffekte.

«Es braucht ein Bewusstsein, dass Atemwegserreger langfristig zu
Komplikationen führen können», sagte der Leiter der Infektiologie der

Berliner Charité, Leif Erik Sander. «Wir wissen mittlerweile, dass
Impfungen vor allen Dingen auch die Folgekomplikationen am
Herz-Kreislaufsystem - also Herzinfarkte, Schlaganfälle, Thrombosen -
deutlich reduzieren können.» 

Kleiner Unterschied - große Wirkung

Für viele Infektionskrankheiten gilt zudem: Sobald die
Durchimpfungsrate unter einen bestimmten Wert sinkt, nehmen die
Erkrankungszahlen wieder stark zu. Wie schnell das gehen kann, konnte
man in diesem Jahr zum Beispiel an den Masern sehen. Deutlich mehr
Menschen als in den vergangenen Jahren erkrankten. Dem RKI wurden
bislang 636 (Stand: 12. Dezember) Infektionen gemeldet (2023: 79;
2022: 15). «Wenn die Impfquote nur ein kleines bisschen nachlässt, da
reichen ein paar Prozent, gibt es umgehend mehr Fälle», erklärte
Sander.

«Ganz viel ist gelungen», sagte Berner. «Aber ganz vieles ist halt
nur fast verschwunden und kann damit auch ganz schnell wieder vor der
Tür stehen.»

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