Hab ich das auch? ADHS bei Erwachsenen Von Ulrike von Leszczynski, dpa

Promis outen sich, die Suche nach Selbsttests im Internet steigt:
Immer mehr Erwachsene vermuten, unter ADHS zu leiden. Was steckt
dahinter?

Berlin (dpa) - Schon wieder das Teamtreffen im Job verpasst, die
Abgabefrist für ein Projekt versäumt und dann noch die Freundin
angebrüllt? Glaubt man manchen Beiträgen in sozialen Medien, kann der
Grund dafür nur ADHS sein: die
Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung bei Erwachsenen. Lange
war sie eher ein Thema bei Kindern. Nun steigt die Suche nach
Selbsttests für Erwachsene im Internet rasant. Bei einer US-Umfrage
ging bereits ein Viertel der Teilnehmer davon aus, unter ADHS zu
leiden. Kann das sein? 

Selbst beim Zuspätkommen ist ADHS neuerdings als Entschuldigung zu
hören. «Das gilt schon fast als fancy», sagt Andreas Reif, Leiter der

Klinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie an der
Uniklinik Frankfurt. Dabei sei das beiläufige Erwähnen psychischer
Erkrankungen ansonsten eher ein Tabu. «Es rennt normalerweise auch
niemand durch die Gegend und sagt, ich habe Schizophrenie», ergänzt
der Facharzt. 

ADHS hängt mit einem gestörten Stoffwechsel des Botenstoffs Dopamin
im Gehirn zusammen - in der Regel von der Kindheit an. Außer nach
Unfällen mit Hirnschädigung können Erwachsene die psychische
Erkrankung nicht plötzlich bekommen. Vererbung spielt nach dem
heutigen Stand der Forschung die größte Rolle. Doch kein einzelnes
Gen ist verantwortlich, es ist ein wechselndes Zusammenspiel von
Erbfaktoren. «Der Punkt, an dem es kippt, ist nicht klar definiert»,
sagt Reif. Eine wichtige Rolle beim Ausgleich spielten intellektuelle
Fähigkeiten. Deshalb bekomme auch nicht jeder Mensch mit dieser
Dopamin-Störung automatisch Probleme im Leben. 

Promis outen sich mit ADHS

Ist es möglich, dass ein ADHS-Outing von Weltstars wie Jennifer Lopez
oder Justin Bieber einen Trend geweckt hat unter dem Motto: Hab ich
das auch? Arzt und Fernsehmoderator Eckart von Hirschhausen ging
seinem persönlichen Verdacht in einer TV-Doku nach und fand ihn nach
einem Diagnose-Verfahren an der Uni-Klinik Bonn bestätigt. Die Lage
ist verzwickt. Nach Daten der Krankenkasse AOK gab es zwischen 2006
und 2023 bei den Diagnosen einen Anstieg von hyperkinetischen
Störungen, zu denen auch ADHS zählt, von 0,1 auf 0,5 Prozent bei
erwachsenen Mitgliedern. Die Medizin geht davon aus, dass konstant 2
bis 3 Prozent der Bevölkerung an ADHS leiden. Diese Zahl steigt also
nicht, augenscheinlich aber die Wahrnehmung der Erkrankung.

Selbsttests im Internet sind oft banal

Experte Reif sieht in Deutschland eine erhebliche Diagnoselücke. Vier
von fünf Betroffenen haben nach seinen Angaben keine ärztliche
Bestätigung ihres ADHS. «Wobei längst nicht jeder Fall
behandlungsbedürftig ist», schränkt der Medizinprofessor ein.
Andererseits gebe es in Sachen Selbstdiagnose oft viel Lärm um
nichts. «Jeder war schon mal unaufmerksam, ungeduldig oder ist
anderen ins Wort gefallen», sagt Reif. Allein Symptome aufzulisten,
nütze gar nichts. ADHS-Selbsttests im Internet, die nicht
wissenschaftlich basiert sind, wirken auf Reif «total banal oder
hanebüchen». 

Wirklich Betroffenen wiederum wird das abwertende Label
«Modediagnose» kaum gerecht. Ihr Leidensdruck kann hoch sein. Manche
schaffen es nicht, sich auf die wichtigen Dinge in ihrem Leben zu
konzentrieren, spüren häufig innere Unruhe, ecken beruflich und
privat immer wieder an, reagieren über. «Kirmes im Kopf» nennen
einige das. Es sei wie ständig mit Turbo zu fahren und den Motor
nicht drosseln zu können. 

Keine Erkrankung der Moderne

ADHS hat dabei weder etwas mit viel Daddeln am Handy zu tun noch mit
den wachsenden Multitasking-Anforderungen der heutigen Arbeitswelt.
Für Reif, Vorstandsmitglied der Deutschen Gesellschaft für
Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde
(DGPPN), ist es keine Erkrankung der Moderne. «Sie ist schon vor 300
Jahren beschrieben worden.» Der Unterschied: Bei Schreibtischjobs
falle ADHS eher auf als früher bei meist schwerer körperlicher Arbeit
in Landwirtschaft, Handwerk oder Industrie.

Lange dachten Mediziner, dass sich die Dopamin-Störung nach der
Kindheit auswachse. Doch was fehlte, waren Langzeitstudien. Heute
nimmt die DGPPN an, dass ADHS im Erwachsenenalter bei mindestens 60
Prozent der Betroffenen fortbesteht. 

Bereitschaft zum Risiko bis zum Kontrollverlust

«Manche Erwachsene mit ADHS machen Dinge, die sie bei längerem
Nachdenken nicht getan hätten», beschreibt es Mediziner Reif. Er
denkt dann zum Beispiel an Unfälle wegen Unaufmerksamkeit und
generell an Risikobereitschaft. «Es kann um Alkohol gehen, um Drogen,
um Sex.» Suchterkrankungen, Depressionen und Angststörungen könnten
ihre tiefere Ursache deshalb auch in ADHS haben. Die psychische
Erkrankung kann Menschen impulsiver machen, manchmal bis hin zum
Kontrollverlust, auch bis zur Kriminalität. Sie kann auch, ähnlich
wie eine bipolare Störung, große Gefühlsschwankungen hervorrufen.
Sehr häufig ist die Konzentrationsfähigkeit massiv gestört. 

Kreative, witzige und empathische Menschen

Der Eindruck des permanenten Versagens oder Nicht-Hineinpassens im
Berufs- und Privatleben kann Betroffene quälen. Zwangsläufig sei
solches Scheitern aber nicht, betont Reif. Vor allem Menschen mit
hohem Intellekt oder guter Anpassungsfähigkeit seien oft in der Lage,
für sich eine passende Nische zu finden. Denn Männer und Frauen mit
ADHS denken oft besonders schnell und kreativ, haben viel Schwung,
handeln fix und gelten als witzig, emphatisch und hilfsbereit.
Vielleicht sind also nicht zufällig viele Künstlerinnen und Künstler

unter den Promis, die sich mit ADHS outen.

Die psychische Erkrankung verläuft auch nicht gleichmäßig über die

gesamte Lebensspanne hinweg. Die Belastung schwankt, mal geht es
besser, mal schlechter - vor allem, wenn große Aufgaben anstehen wie
ein Examen oder die eigene Familiengründung. «Wo man hohe Leistung
braucht, wird es schwierig», berichtet Psychiater Reif. 

Medikamente schlagen schnell an 

Er kennt aus seiner Erfahrung als Arzt erschütternde
Lebensgeschichten von ADHS-Patientinnen und Patienten, aber auch
Wendungen zum Besseren. «Da ging es immer wieder ums Scheitern, da
blieben Menschen deutlich hinter ihren Möglichkeiten zurück - und
dann ließen sich Lebensverläufe drehen», berichtet er. Seit 2011 sind

ADHS-Medikamente für Erwachsene in Deutschland zugelassen. Im
Dezember bestätigte eine Meta-Analyse im Fachjournal «The Lancet
Psychiatry», dass die Stimulanzien Amphetamin sowie Methylphenidat
und die Arznei Atomoxetin die Kernsymptome bei Erwachsenen meist
schnell verringern können. Eine Psychotherapie allein hilft demnach
weniger gut, zusammen mit Medikamenten könne sie aber psychische
Begleitprobleme eindämmen. 

Orga-Apps helfen selten weiter 

Ein Problem: Die Wartelisten für eine Diagnose bei Fachärzten sind
lang, es kann viele Monate dauern bis zu einem Termin. Fachleute
wissen auch, was bei ADHS nicht hilft: Berge von Ratgeberliteratur,
Orga-Apps und gut gemeinte Tipps wie Wecker stellen, Notizzettel
aufhängen und To-do-Listen schreiben. «Es ist kein Nicht-Wollen, es
ist ein Nicht-Können», bilanziert Facharzt Reif. Es ist das
Grunddilemma vieler psychischer Erkrankungen.

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