Unsere Wahrnehmung ist zu negativ - und das hat Folgen Von Marco Rauch, dpa

Es gibt Zeiten, die fühlen sich besonders negativ an. Das vergangene
Jahr war so eines. Zu allen Kriegen und Krisen kommt noch hinzu:
Menschen nehmen negative Informationen stärker wahr als positive.

Berlin/Köln (dpa) - Manchmal ist es schwer, all die dunklen
Nachrichten des vergangenen Jahres zu verarbeiten. In der Ukraine, im
Nahen Osten und an vielen anderen Orten tobten und toben Kriege, die
zerstrittene deutsche Bundesregierung zerbrach, in vielen Ländern
verwüsteten Jahrhunderthochwasser das Land, beim Anschlag auf den
Magdeburger Weihnachtsmarkt starben Menschen und bei Abstürzen von
Passagierflugzeugen gab es zahlreiche Todesfälle.

All das bleibt im Gedächtnis. Viel eher als die Milliarden Menschen,
die sich tagtäglich friedlich begegneten. Oder die unzähligen
Flugzeuge, die sicher landeten. Oder auch die guten Nachrichten, etwa
dass die Abholzung im Amazonas zurückging oder Deutschland die
Fußball-EM im eigenen Land feierte.

Was für das Weltgeschehen gilt, gilt auch im Privaten: Negatives
bleibt mehr im Kopf als Positives. Man erinnert sich eher an die eine
negative Bemerkung zur neuen Frisur als an die vielen positiven
Kommentare dazu.

«Während uns ein Wort der Kritik zu vernichten vermag, kann es uns
durchaus kaltlassen, wenn uns jemand mit Lob überhäuft. Wir sehen das
eine feindselige Gesicht in der Menge, während uns so manches
freundliche Lächeln entgeht», schreiben der US-amerikanische
Sozialpsychologe Roy Baumeister und der ebenfalls amerikanische
Wissenschaftsjournalist John Tierney in ihrem 2019 erschienenen Buch
«Die Macht des Schlechten». 

Die verzerrende Macht des Negativen

Schon ein einziges stark negatives Erlebnis könne ein lebenslanges
Trauma auslösen, ein Pendant dazu im Positiven existiere nicht,
schreiben die beiden. All das nennen sie «Negativitätseffekt» oder
«Negativitätsdominanz», im Englischen «Negativity Bias».

Baumeister und Tierney bezeichnen das Phänomen in ihrem Buch auch als
«verzerrende Macht des Negativen» und beschreiben es als «menschliche

Neigung, sich von negativen Ereignissen und Emotionen stärker
beeinflussen zu lassen als von positiven».

Die Psychologen Lucas LaFreniere und Michelle Newman zeigten 2020 in
einer Studie, dass die Menge der negativen Emotionen in Menschen in
der Regel unverhältnismäßig hoch ist. Mehr als 90 Prozent der Sorgen,

die sich Menschen täglich machen, seien völlig nutzlos - denn die
Probleme, um die sie kreisen, träten niemals ein.

Evolution als Ursache?

Seine Ursache scheint der Negativitätseffekt in der Evolution zu
haben - denn früher hatte er einen Zweck: Vor Tausenden von Jahren
war er überlebenswichtig, weil es für die Menschen damals hochgradig
relevant, sich zu merken, welche Früchte schwer verdaulich oder sogar
giftig waren, wo Bären hausten oder Raubtiere auf Jagd gingen. Der
Fokus auf diese Gefahren hat damals also Leben gerettet.

Heute gilt das zwar auch noch, beispielsweise bei erhöhter Vorsicht
beim Autofahren, weil man die Geschichten der Horrorunfälle kennt.
Der Effekt ist jedoch auch eine große Gefahr: Die
Negativitätsdominanz zerstöre den Ruf von Individuen, da sich auf
ihre Fehler konzentriert werde, schreiben Baumeister und Tierney. Er
führe Unternehmen in die Pleite, wenn Aktionäre gehört haben, es gehe

diesen schlecht.

Der Effekt fördere zudem Stammesdenken, Rassismus, grundlose Ängste
und Zorn beispielsweise gegenüber Flüchtlingen, weil sich Geschichten
über gefährliche Straftäter unter ihnen eher einprägen als
Geschichten über die Friedvollen. Zudem vergifte die
Negativitätsdominanz die politische Öffentlichkeit und sorge dafür,
dass Demagogen gewählt werden, da diese sich die Ängste und Sorgen
der Menschen zunutze machten. 

Mehr Aufmerksamkeit und tiefere Verarbeitung

Christian Unkelbach ist Sozialpsychologe an der Uni Köln, der
Negativitätseffekt ist eines seiner Kernthemen. Ihm zufolge geht es
dabei im Grunde darum, dass negative Informationen im Durchschnitt
mehr Aufmerksamkeit von Menschen bekommen als positive. Zudem würden
sie tiefer verarbeitet und hätten mehr Einfluss auf unsere
Entscheidungen.

Als klassischen Erkläransatz nutzt auch Unkelbach die Evolution:
«Nehmen wir extrem vereinfacht an, Vorfahr A achtet mehr auf negative
Informationen als Vorfahr B. Vorfahr A entdeckt dann das Raubtier vor
Vorfahr B; A entkommt und B wird gefressen.»

Der vorsichtigere Mensch, der sich die negativen Informationen über
Gefahren besser einprägt, lebt also länger. Damit gibt er diese
Herangehensweise auch über Gene und Erziehung weiter.

Unkelbachs Forschungsteam hat zudem einen Erklärungsansatz dazu, wie
Lernprozesse ablaufen. Negative Informationen seien abseits der
Nachrichten viel seltener als positive, und zudem viel diverser, da
es sehr viel mehr Arten gebe, schlecht zu sein, also solche, gut zu
sein. «Menschen achten mehr auf seltene Informationen - und die
höhere Diversität führt zu einer tieferen Verarbeitung», erklärt

Unkelbach.

Praktische Vorteile und fatale Nachteile

Im heutigen Alltag könne der Effekt zwar auch einen Vorteil
darstellen -beispielsweise dann, wenn die negative Information, dass
Milch schnell schlecht wird, dazu führt, dass man darauf achtet und
nie schlechte Milch trinkt.

Doch laut Unkelbach gibt es auch eine «fast tragische Konsequenz»
dieses eigentlich nützlichen Effektes. «Menschen erleben die Welt als
hart, unfreundlich und negativ. Wenn Sie alle negativen Informationen
eines Nachrichtentages zusammenfassen, Kriege, Hunger, soziale
Probleme und allgemeine Ungerechtigkeit, dann sieht das Leben düster
aus.» 

Auch Unterhaltung und Politik betroffen

Es gebe kaum Bereiche, in denen der Negativitätseffekt so stark
ausgeprägt sei wie beim Medienkonsum, sagt Unkelbach. Das betreffe
nicht nur die Nachrichten, die von negativen Schlagzeilen bestimmt
seien, sondern auch in Unterhaltungsmedien. 

«Da Unterhaltung auch Abwechslung bedeutet und negative Informationen
diverser sind, sind negative Medieninhalte oft abwechslungsreicher
und damit auch unterhaltsamer», erklärt der Sozialpsychologe. «Ein
Film über eine glückliche Beziehung und das tägliche, normale Leben
ist weniger unterhaltsam als ein Film über eine Trennung und den
darin enthaltenen Streit.»

Auch in der Politik spiele der Negativitätseffekt eine Rolle,
schließlich werde sich mehr auf die Fehler von Regierungen und
Politikern als auf deren Errungenschaften konzentriert. So bleibe
eine einzige Lüge viel mehr in Erinnerung als viele verschiedene
wahre Aussagen, sagt Unkelbach. Darunter leide die Integrität der
Politiker, woraus Politikverdrossenheit folgen könne. 

Lösungsvorschläge

Doch was können Menschen gegen diese evolutionäre Prägung tun?
Unkelbach zufolge könne «ein aktiver Fokus auf die positiven
Erlebnisse im Leben hilfreich sein». Einige Menschen schreiben zum
Beispiel ein Tagebuch, in dem sie positive Geschichten festhalten. 

Zudem müssten Politik und Medien es schaffen, «interessante und
abwechslungsreiche positive Inhalte zu generieren», meint Unkelbach.
«Allerdings liegt es auch der Verantwortung der Medien, Missstände
und Probleme aufzuzeigen.» 

Es könne schon helfen zu wissen, dass Medien und Politik immer einen
Fokus auf Probleme und Negatives haben und die Welt dadurch nicht
immer gut repräsentiert wird, meint er. Vielleicht könne also schon
das bloße Wissen um den Negativitätseffekt helfen, sich von
ebendiesem nicht runterziehen zu lassen.

Das bestätigen auch Baumeister und Tierney in ihrem Buch: «Indem wir
den Negativitätseffekt durchschauen und uns über unsere angeborenen
Reaktionen hinwegsetzen, können wir destruktive Muster durchbrechen
und positiver - effektiver - in die Zukunft sehen.» Das sei jetzt in

der digitalen Welt, «die die Macht des Negativen potenziert»,
wichtiger denn je. Der rationale Teil unseres Hirns könne dabei
helfen, sich von der aus der Zeit gefallenen Fokussierung auf das
Negative loszusagen und sich stattdessen Positivem zuzuwenden.

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