Hoher Krankenstand in Deutschland - das sind die Gründe Von Basil Wegener, dpa

Warum melden sich in Deutschland mehr Menschen krank als anderswo?
Die Forderung nach einem Karenztag gegen das «Blaumachen» rückt die
vielen Fehltage in den Fokus. Doch die Gründe liegen anderswo.

Berlin (dpa) - Neuer Befund zum Rekordkrankenstand in Deutschland:
Nicht häufiges Blaumachen ist laut Bundesärztekammer und einer neuen
Studie zufolge der Grund, sondern es sind die neue digitale
Krankmeldung und verstärkte Infektionen. Ärztepräsident Klaus
Reinhardt sagte in Berlin, es komme nach seiner Einschätzung «nicht
in großem Stil vor», dass Menschen nur krank spielten. Nach Angaben
des Statistischen Bundesamtes waren Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmer in Deutschland 2023 durchschnittlich 15,1 Arbeitstage
krankgemeldet.

Bei den Fehltagen gab es erstmals von 2021 auf 2022 einen
sprunghaften Anstieg - und zwar um fast 40 Prozent, wie die neue
Studie der Krankenkasse DAK-Gesundheit zeigt. Reinhardt erläuterte,
in der Statistik seien die Krankschreibungen mit Einführung der
elektronischen Krankschreibung (eAU) 2021 auf einem Schlag in die
Höhe gegangen. Sie ersetzt den «gelben Schein» vom Arzt, die
Krankschreibung auf Papier.

Studie: Meldeeffekt 60 Prozent

Heute gebe es eine Erfassung sämtlicher Krankschreibungen zu 100
Prozent, so der Ärztepräsident. «Die hatten wir bis zur Einführung

der eAU nicht, weil der Versicherte (...) den Zettel, der an die
Krankenkasse ging, häufig gar nicht weggeschickt hat, sondern nur
den, der an seinen Arbeitgeber ging.»

Laut der DAK-Studie zum deutschen Rekordkrankenstand beträgt der
Meldeeffekt - je nach Diagnose - rund 60 Prozent und mehr. Die
Erhebung liegt der Deutschen Presse-Agentur (dpa) vor. «Ein Drittel
der zusätzlichen Fehltage ergibt sich seit 2022 zudem durch
verstärkte Erkältungswellen und Corona-Infektionen», so die
DAK-Gesundheit weiter.

Das beobachtet auch Reinhardt aktuell in einer Bielefelder
Stadtteilpraxis, in der er seit seiner Amtsübernahme bei der Kammer
in der Regel nur noch einmal die Woche arbeitet. Von seinem Einsatz
in dieser Woche berichtete er: «Da waren richtig viele Menschen.» 

Ein weiterer «künstlicher» Effekt

Darunter seien viele gewesen, «die eine
Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung brauchten aufgrund eines relativ
banalen Effektes». Die Patientinnen und Patienten seien deshalb am
ersten Tag gekommen, «weil das die Arbeitgeber entsprechend
verlangten». Dieser Effekt sei «künstlich gemacht», sagte Reinhardt
.
Insgesamt gingen viele auch bei Bagatellerkrankungen zum Arzt. Viele
Firmen verlangten eine Bescheinigung von dort schon am ersten
Krankheitstag, meinte Reinhardt.

Debatte über Karenztag

Am Vortag hatte der Allianz-Vorstandsvorsitzende eine Debatte über
den Krankenstand in Deutschland angestoßen. Dieser liegt statistisch
im internationalen Vergleich hoch. Bäte sprach sich in einem
Interview dafür aus, die Lohnfortzahlung am ersten Krankheitstag zu
streichen. Daraufhin hagelte es Kritik, etwa vom Deutschen
Gewerkschaftsbund (DGB). Der DGB warnte vor Folgekosten und
Ansteckungs- und Unfallgefahren durch immer zahlreichere Fälle von
krank bei der Arbeit erscheinenden Personen. 

In der Bundesrepublik gilt - anders als in einigen anderen Ländern -
seit Jahrzehnten die Lohnfortzahlung ab dem ersten Krankheitstag.
Auch der CDU-Sozialflügel warnte davor, daran zu rütteln. 

DAK-Vorstandschef Andreas Storm forderte, die in der Arbeitswelt
bestehende «wachsende Misstrauenskultur» einzudämmen. «Unsere Studi
e
zeigt, dass weder die telefonische Krankschreibung noch das
Blaumachen die wirklichen Gründe für den sprunghaften Anstieg sind.»

Der Statistikeffekt durch die eAU und Erkältungswellen hätten die
zentralen Rollen gespielt. 

Nach einer Statistik der DAK-Gesundheit hatten 2023 weit über die
Hälfte der DAK-Versicherten mindestens eine Krankschreibung, im
Gesamtjahr waren es im Schnitt 20 Fehltage pro Kopf. 

Mehr Vorsicht bei Infektionen

Laut Reinhardt ist zudem festzuhalten, dass sich seit der
Corona-Pandemie mehr Menschen generell bei Infekterkrankungen
krankschreiben ließen. «Der Aspekt des Nichtansteckens hat eine
andere Qualität gewonnen in den zwei, drei Jahren des Lockdowns und
der Infektionsvermeidung.» 

Weise ein Unternehmen besonders hohe Krankenstände auf, «muss man ins
Unternehmen gehen und gucken, wie die Unternehmenskultur ist», sagte
Reinhardt weiter. «Vor dem rein ärztlichen Hintergrund würde man
sagen: Wenn jemand krank ist, ist er krank - wenn er nicht
arbeitsfähig ist, dann ist er nicht arbeitsfähig». 

Linke fordert Einschreiten von Scholz, Merz und Habeck

Vor dem Hintergrund der Debatte forderte Linke-Chef Jan van Aken
Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD), Unionskanzlerkandidat Friedrich Merz
(CDU) und Grünen-Spitzenkandidat Robert Habeck zum Einschreiten auf.
Sie sollten öffentlich klarstellen, dass sie der Forderung nach einer
Einschränkung der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall «eine klare
Absage» erteilen, so van Aken in einem der dpa vorliegenden Brief.

Genau untersucht wurde das Krankschreibe-Verhalten auch vom
Leibniz-Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW):
Deutschland weise «vermutlich eine der höchsten Fehlzeiten weltweit»

auf. Unterschiedliche Quellen zeigten einen starken Anstieg seit
2022. Zu den Haupterklärungen zählten Covid-19, mehr Infektionen,
verändertes Fehlzeitenverhalten und eine verbesserte elektronische
Datenübermittlung. «Es gibt starke Anhaltspunkte, dass der Großteil
des Anstiegs der Fehlzeiten auf eine bessere statistische Erfassung
der Fehlzeiten zurückzuführen ist.»

Milliardenkosten für die Unternehmen

Das arbeitgebernahe Institut der deutschen Wirtschaft (IW) stellt in
einer Erhebung fest, dass sich die Kosten für die Entgeltfortzahlung
zuletzt innerhalb von 14 Jahren verdoppelt hätten. 2023 hätten die
Arbeitgeber 76,7 Milliarden Euro für die Entgeltfortzahlung ihrer
erkrankten Beschäftigten aufbringen müssen.

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