Bremer Beirat gegen Gewalt - eine Stimme für Betroffene Von Sina Schuldt und Mirjam Uhrich , dpa
Alle drei Minuten erlebt ein Mädchen oder eine Frau in Deutschland
häusliche Gewalt. Betroffene in Bremen erheben ihre Stimme - sie
haben eine Mission.
Bremen (dpa/lni) - Erst als sie einen Fragebogen ausfüllt, werden Isa
die Dimensionen klar. Sie soll angeben, welche Erfahrungen mit Gewalt
sie durchgemacht hat. «Ich konnte wirklich alles ankreuzen. Nur zwei
Punkte nicht: Prostitution und Menschenhandel», erzählt die
41-Jährige und schüttelt den Kopf. Sie ringt mit sich, sucht nach den
Worten. «Das war in dem Moment schon so: «Okay...fuck.»»
Seit diesem Schlüsselerlebnis vor mehr als drei Jahren engagiert sich
Isa - deren vollen Namen im Text zu ihrem eigenen Schutz nicht
genannt wird - im sogenannten «Bremer Betroffenenbeirat
Istanbul-Konvention (B*BIK)». Die Mitglieder haben alle selbst Gewalt
erlebt und wollen andere davor schützen. Sie setzen sich dafür ein,
dass Hilfe dort ankommt, wo sie benötigt wird.
Bundesweit einmaliges Projekt mit Betroffenen
Das Projekt ist nach Angaben des Bremer Gesundheitsressorts
bundesweit einmalig - und weckt Interesse: Der Betroffenenbeirat
steht im Austausch mit dem Bund und den Ländern Hamburg,
Nordrhein-Westfalen und Thüringen. Aber auch aus Litauen,
Bosnien-Herzegowina und der Türkei gibt es Anfragen, wie sich
Betroffenen in dem kleinsten Bundesland bei der Umsetzung der
Istanbul-Konvention - einem Übereinkommen des Europarats zur
Prävention und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen - einbringen.
Bis zu sechsmal im Jahr trifft sich der Betroffenenbeirat. Die neun
ehrenamtlichen Mitglieder tauschen sich untereinander aus,
diskutieren mit Behörden und Fachstellen, schreiben Stellungnahmen
wie beispielsweise zum Umgang mit Tätern und bringen ihre Erfahrungen
etwa beim Aufbau der Bremer Gewaltschutzambulanz ein. «Leute, die
nicht von Gewalt betroffen sind, können nicht wissen, wie sich das
anfühlt und welche Unterstützung wirklich nötig ist», sagt Wiesel,
ein anderes Mitglied des Betroffenenbeirats. «Darum ist die Expertise
von Betroffenen enorm wichtig.»
Schon als Kleinkind Gewalt erlebt
An die ersten Gewalterfahrungen kann sich Wiesel gar nicht erinnern,
so früh fing es an. Immer wieder Schläge, sexueller Missbrauch,
schließlich auch Prostitution und Kinderpornografie. Als der Erzeuger
auffliegt, wird er aus dem Haus geworfen. «Aber die Gewalt ging
trotzdem weiter», erzählt Wiesel. Als Kind wird Wiesel niedergemacht
und vernachlässigt, es gibt nicht mal Geld für Essen, Schulsachen
oder Kleidung. «Also wirklich alles, was man so in den Büchern liest,
das hat meine Erzeugerin gemacht.»
Die einzige Zuflucht ist die Oma. «Bei meiner Oma gab es keine
Gewalt. Da gab es Eis und Basteln und Zeichentrickfilme», erinnert
sich Wiesel. Doch Hilfe findet Wiesel lange Zeit nicht. «Ich habe
mich damals einfach total alleine gelassen gefühlt.» Erst mit einer
neuen Beziehung im Alter von 26 Jahren ändert sich alles: Wiesel
lässt keine Gewalt mehr im Umfeld zu und geht in Therapie.
Zehn Mal war Wiesel schon stationär in Behandlung. «Aufgrund der
ganzen Erfahrungen ist meine Psyche total kaputt.» Mit 32 Jahren muss
Wiesel das Studium abbrechen und ist seitdem erwerbsunfähig. Nur mit
Medikamenten, enger psychiatrischer und psychologischer Behandlung
nimmt Wiesel heute die Kraft, für sich und andere Betroffene
einzustehen.
Fast jeden Tag ein Femizid in Deutschland
Bis dahin sei es ein weiter Weg gewesen, sagt Wiesel. «Es ist für
Betroffene ganz schwer, sich selbst erst einmal einzugestehen: Ich
brauche Hilfe.» Und sich dann wirklich Unterstützung zu suchen, sei
eine weitere Hürde. Mit dem Engagement im Betroffenenbeirat möchte
Wiesel Kindern und Frauen die Scham nehmen und die Gesellschaft für
das Thema sensibilisieren.
Denn frauenfeindliche Gewalt ist in Deutschland alltäglich, wie
Zahlen des Bundeskriminalamts von 2023 zeigen. Alle drei Minuten
erlebt eine Frau oder ein Mädchen in Deutschland demnach häusliche
Gewalt. Jeden Tag werden mehr als 140 Frauen und Mädchen bundesweit
Opfer einer Sexualstraftat. Und beinahe täglich wird in Deutschland
eine Frau getötet, weil sie eine Frau ist.
Häusliche und sexuelle Gewalt, Stalking oder Zwangsprostitution - die
Mitglieder des Betroffenenbeirats bringen ganz unterschiedliche
Erfahrungen mit. Das sei für alle ebenso Bereicherung wie
Herausforderung. «Als Beirat müssen wir mit einer Stimme sprechen»,
betont Isa. «Niemand darf außen vor bleiben oder sich nicht
wohlfühlen, gerade weil die Themen so schwierig sind.»
«Da knüpft sich Trauma, an Trauma, an Trauma»
Isa selbst hat psychische Gewalt in ihrer Familie erlebt. Als Mädchen
sei sie kleingehalten worden, ihre Meinung habe nie eine Rolle
gespielt, erzählt die 41-Jährige. «Da knüpft sich Trauma, an Trauma
,
an Trauma.» Als sie mit 17 Jahren schließlich Opfer sexuellen
Missbrauchs wurde, habe die Familie das nicht ernst genommen.
Nach vielen Jahren Unterdrückung bricht Isa 2017 den Kontakt ab. Doch
die Geschehnisse kann sie nicht rückgängig machen. Bis heute leidet
sie unter Depressionen, durchlebt Panikattacken und bekommt eine
posttraumatische Belastungs- sowie eine zwanghafte
Persönlichkeitsstörung diagnostiziert. «Ich nehme durchgehend
Medikamente, damit ich überhaupt am Alltag teilnehmen kann», sagt die
41-Jährige.
Betroffene leiden ihr Leben lang an den Folgen der Gewalt
Die Folgen der Gewalt begleiten die Frauen für immer. «Daraus
resultieren Behinderungen, die ein Leben lang bleiben», sagt die
Bremerin. Viele könnten sich etwa schlecht konzentrieren und nicht
Vollzeit arbeiten. «Die Erfahrung geht nie wieder weg. Sie begleitet
einen, egal was ist.»
Es koste sie alle Kraft, mit dem Erlebten umzugehen, erzählt Isa. Sie
wisse daher bisher nicht, ob sie sich auch in den nächsten Jahren als
Betroffene von Gewalt einbringen werde. Nach vier Jahren wird im
Oktober die Arbeit des ersten Betroffenenbeirats enden. «Eine erneute
Besetzung für vier Jahre ist geplant», teilte eine Sprecherin des
Gesundheitsressorts mit.
Die Arbeit muss weitergehen, sind sich auch Isa und Wiesel einig.
Damit andere Mädchen und Frauen unterstützt und künftig besser vor
Gewalt geschützt werden. «Ich hätte darauf verzichten können,
überhaupt in diese Kategorien als Betroffene von Gewalt zu fallen»,
meint Isa. «Aber so hat das Ganze wenigstens etwas Gutes.»
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