Patient schlägt Hausarzt krankenhausreif - kein Einzelfall Von Thomas Strünkelnberg, dpa

Ein Allgemeinmediziner wird zusammengeschlagen. In seiner Praxis,
einfach so. Ein Einzelfall? Mitnichten. «Es ist nicht mehr
auszuhalten», sagt ein anderer Mediziner aus dem Kreis Wolfenbüttel.

Spenge/Hannover (dpa) - Beim Arzt bespricht man die persönlichsten
und intimsten Fragen, man fühlt sich dort in der Regel sicher und
geschützt. Die Praxis sei ein geschützter Raum, sagt Hausarzt Andreas
Schimke - dort würden «Dinge besprochen, die sonst nirgends
besprochen werden». Ein Schutzraum nur für Patienten? Keineswegs,
auch für Arzt oder Ärztin, betont der Mediziner aus Spenge in
Nordrhein-Westfalen. «Das darf nicht missbraucht werden, nicht vom
Arzt und auch nicht vom Patienten.» 

Mediziner wird krankenhausreif geschlagen

Die Realität sieht allerdings manchmal anders aus: Ende Januar wird
der 54-Jährige in seiner Praxis von einem Patienten bewusstlos
geschlagen, «unvermittelt, unvorbereitet, aus meiner Sicht auch
grundlos». Die Polizei ermittelt. 

Es ist offensichtlich kein Einzelfall: Erst am Montag bedroht im
Düsseldorfer Uni-Klinikum ein Mann einen Arzt mit einem Messer und
wird daraufhin von einem Polizisten angeschossen, nachdem ein
Elektroschockgerät wirkungslos bleibt. Der Schuss trifft sein Bein,
er wird notoperiert. Ein Allgemeinmediziner aus dem Landkreis
Wolfenbüttel wiederum sagt der «Braunschweiger Zeitung»: «Es ist
nicht mehr auszuhalten.» Beleidigungen seien an der Tagesordnung, er
denke darüber nach, aufzuhören. 

Schimke sagt zu der Attacke: «Das macht mich fassungslos.» Er habe
erhebliche Gesichtsverletzungen erlitten, leide unter Schmerzen, sei
über mehrere Stunden im Krankenhaus behandelt worden und falle zwei
Wochen am Arbeitsplatz aus. Von bleibenden Schäden sei
glücklicherweise nicht auszugehen. Der Täter habe außerdem gedroht,
ihn und seine Familie umzubringen. Mehr will er unter Hinweis auf
seine ärztliche Schweigepflicht zu dem Vorfall nicht sagen. 

Arzt schlägt vor: Strafrecht verschärfen, Hemmschwelle erhöhen

Was aus seiner Sicht ohnehin schwerer wiegt: «Ich wundere mich über
fehlende Konsequenzen, als der Geschädigte fühle ich mich nicht
wirklich vertreten vom System.» Nach Angaben der Polizei in Herford
wird der mutmaßliche Täter, ein 24-Jähriger, fachärztlich
begutachtet, ist aber weiter auf freiem Fuß. Nach Informationen der
Deutschen Presse-Agentur kommt der 24-Jährige nur vorübergehend in
eine Psychiatrie, auch eine zweite Untersuchung ändert daran nichts.

Zwar fahre die Polizei Streife vor seiner Praxis, sagt Schimke. Aber:
«Ich fühle mich nicht in ausreichendem Maße geschützt.» Sein Eind
ruck
sei, dass sich etwas tue in der Gesellschaft - und man in einer
Gesellschaft, die zunehmend verrohe, die Hemmschwelle erhöhen müsse.
Sein Vorschlag: Das Strafrecht verschärfen. Hausärzte, Klinikärzte
und Beschäftigte in Praxen sollten in den Paragrafen 115 des
Strafgesetzbuchs aufgenommen werden. 

Bundesärztekammer verlangt «ganzes Maßnahmenbündel»

Ein Gesetzentwurf der gescheiterten Ampel-Koalition sollte zudem mit
einer leichten Verschärfung des Strafrechts unter anderem
Rettungskräfte besser vor Gewalt schützen. Allerdings: Nach Angaben
des Bundesjustizministeriums dürfte mit einem Abschluss des
Gesetzgebungsvorhabens angesichts des vorzeitigen Endes der
Legislaturperiode nicht mehr zu rechnen sein.

Dennoch: Die Regelung müsse «um alle in der direkten
Patientenversorgung tätigen Berufsgruppen» erweitert und von einer
neuen Bundesregierung beschlossen werden, mahnt Marion Charlotte
Renneberg, Hausärztin und stellvertretende Präsidentin der
Ärztekammer Niedersachsen.

Mit der Forderung steht sie nicht allein, dafür sprechen sich auch
andere Verbände und Kammern aus. Die Bundesärztekammer mahnt sogar
ein ganzes Maßnahmenbündel an, das über eine Strafrechtsverschärfun
g
weit hinausgeht: Ermittlungsbehörden und Gerichte bräuchten
notwendige personelle und finanziellen Ressourcen, um die rechtlichen
Möglichkeiten voll auszuschöpfen, fordert der Präsident der
Bundesärztekammer, Klaus Reinhardt.

Forderung an neue Bundesregierung

«Nur so werden potenzielle Täter verinnerlichen: Angriffe auf
Beschäftigte des Gesundheitswesens sind keine Kavaliersdelikte, sie
sind schwerwiegende Straftaten», betont er. Bund und Länder sollten
darüber hinaus Meldesysteme für Angriffe auf Einsatzkräfte und
medizinisches Personal einführen. Weil Ärztinnen und Ärzte tagtägli
ch
unter großem Arbeits- und Zeitdruck stünden, sähen sie nicht selten
davon ab, Beleidigungen oder Pöbeleien anzuzeigen, weil in der Hektik
des Tages dafür einfach keine Zeit sei. 

Reinhardt erklärt: «Wenn ausgerechnet diejenigen angegriffen und in
ihrer Arbeit behindert werden, die anderen Menschen bei Krankheit und
in Notsituation helfen, ist das nicht nur eine neue Dimension
gesellschaftlicher Verrohung, es ist ein echtes Problem für die
Allgemeinheit.» Der Schutz von Leib und Leben im Gesundheitswesen
gehöre dringend auf die Agenda der neuen Bundesregierung, fordert er.
«Diese Gewaltspirale muss gestoppt werden.»

Hohe Dunkelziffer vermutet

Denn es betreffe ihn nicht allein, meint Schimke - er habe viele
Zuschriften von Kollegen erhalten: «Es muss eine unendlich hohe
Dunkelziffer geben.» Allerdings seien Aggressionen weniger im
Sprechzimmer, sondern mehr an der Anmeldung zu beobachten: «Man merkt
den rauen Ton.» 

Auch Reinhardt betont, es handele sich um keinen Einzelfall:
«Gereiztheit ist weit verbreitet, und die Schwelle, an der sie
übergeht in Aggression, ist definitiv gesunken. Auf den Straßen
werden Notärzte und Rettungssanitäter angegriffen. In den
Notfallambulanzen werden die Mitarbeiter wegen Nichtigkeiten
angepöbelt oder sogar angegriffen. Auch in unseren Praxen kommt es
immer häufiger zu gewaltsamen Übergriffen.»

Renneberg spricht von einem «immer rücksichtsloser werdenden Umgang
mit den Beschäftigten im ärztlichen Notdienst, in Notaufnahmen, in
Praxen, Kliniken sowie an vielen anderen Stellen der
Gesundheitsversorgung». Sie betont: «Dies ist absolut inakzeptabel.»
 

Viele Gewalterfahrungen

Nur: Wie häufig kommt es zur Gewalt? Nach einer Online-Umfrage der
Kassenärztlichen Bundesvereinigung unter knapp 7.600 Ärzten und
Ärztinnen, Psychotherapeuten und medizinischen Fachangestellten haben
vier Fünftel von ihnen 2023 Beschimpfungen, Beleidigungen oder
Drohungen erlebt. Davon schalteten 14 Prozent die Polizei ein oder
erstatteten Anzeige. Und 43 Prozent der Befragten erlebten in einem
Zeitraum von fünf Jahren auch körperliche Gewalt. Diese reichte von
Tritten gegen das Schienbein, Schubsen und Spucken bis hin zu
schweren Angriffen.

Erhellend dürfte auch eine Umfrage der Ärztekammer Westfalen-Lippe
unter ihren Mitgliedern zu deren Erfahrungen mit Gewalt von Mai 2024
sein. Binnen weniger Tage meldeten sich 4.513 Ärztinnen und Ärzte
zurück - und mehr als die Hälfte (2.917) davon bejahte die Frage, im
ärztlichen Alltag bereits Gewalt erfahren zu haben. 

Die Kassenärztliche Vereinigung Westfalen-Lippe teilte mit, bei einer
Umfrage zu Gewalt im vergangenen Jahr hätten 750 Praxen geantwortet -
fast 20 Prozent hätten wegen Gewalterfahrungen in der Praxis
Schwierigkeiten, ausreichend Personal zu finden.

«Hausärzte sind immer allein»

Was speziell niedergelassenen Ärzten das Leben erschwert: Hausärzte
verzichteten auf persönlichen Schutz, indem sie sich in potenziell
gefährliche Situationen begäben, um Patienten zu helfen - wie beim
Hausbesuch, erklärt Schimke. Dabei sei oft unklar, ob sie etwa auf
einen psychisch kranken oder einen drogenabhängigen Menschen treffen.
Doch während Rettungskräfte normalerweise nicht allein im Einsatz
seien, gelte: «Hausärzte sind immer allein.»

Und wie macht der 54 Jahre alte Hausarzt Andreas Schimke aus Spenge
nun weiter? Es mache etwas mit den Menschen, wenn sie mit dem Tod
bedroht würden, sagt er - betont aber auch: «Ich bin nicht der Typ,
besorgt in die Praxis zu gehen.»

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