Der schwierige Weg zur Diagnose bei seltenen Erkrankungen Von Birgit Reichert und Harald Tittel , dpa
Es werden immer mehr seltene Erkrankungen registriert. Die Suche nach
einer Diagnose kann viele Jahre dauern und sehr belastend sein. Wie
ein Fall aus Trier zeigt.
Trier/Homburg (dpa) - Angefangen hat alles vor gut zehn Jahren.
Bernward Wittschier bekam taube Finger, taube Zehen und ein taubes
Gesicht. Außerdem schmeckte plötzlich alles nur noch salzig. Heute
hat sich das Taubheitsgefühl weiter ausgebreitet: Es geht von der
Stirn schräg über seinen Kopf nach unten bis in den Schulterbereich.
«Es ist, wie wenn man zehn Betäubungsspitzen beim Zahnarzt bekommt
und die Wirkung nie nachlässt», sagte der 63-Jährige in Trier. Die
Taubheit schlage inzwischen auch auf das Sprechen und das Schlucken:
«Ich verschlucke mich 30- bis 40-mal am Tag.» Er habe Angst, dass die
Krankheit weiterwandere.
«Ratlos und verzweifelt»
Das Allerschlimmste sei aber: «Mir kann kein Arzt helfen.» Er habe
eine wahre «Behandlungsmühle» hinter sich. Vom Hausarzt,
Gehirnspezialisten über Lungenfacharzt, Zahnarzt und Orthopäden - bis
er sich ans Zentrum für seltene Erkrankungen am Universitätsklinikum
des Saarlandes in Homburg wandte.
Dort sei auch er mehrfach stationär in der Neurologie gewesen - ohne
dass bisher eine klare Diagnose oder Therapie gefunden werden konnte,
sagte der Rechtsanwalt. «Ich bin ratlos und auch ein Stück weit
verzweifelt.»
Diagnose kann viele Jahre dauern
Die schwierige und langwierige Suche nach einer Diagnose ist den
Experten des Zentrums für seltene Erkrankungen in Homburg bekannt.
«Im Schnitt kann das bis zu fünf Jahre dauern», sagte die
Geschäftsführerin und Lotsin des Zentrums, Katarzyna Rososinska. In
Extremfällen wisse man erst nach vielen Jahren, sogar 25 Jahren, an
was jemand leide.
Tag der seltenen Erkrankungen am 28. Februar
Oft werde auch eine Fehldiagnose gestellt. Und: «Leider findet man
nicht immer eine Diagnose. Es gibt Fälle, da stößt man diagnostisch
einfach an Grenzen», sagte die Oberärztin.
Am 28. Februar ist in diesem Jahr Tag der seltenen Erkrankungen. In
Schaltjahren liegt er auf dem 29. Februar. Von einer solchen
Erkrankung spreche man, wenn es bis zu 5 Fälle pro 10.000 Einwohner
gebe, sagte sie. In Europa gebe es rund 30 Millionen Betroffene, in
Deutschland seien es 4 Millionen Menschen. Zudem gebe es noch
ultraseltene Erkrankungen, die weniger als 2 pro 100.000 Einwohnern
betreffen.
Immer mehr seltene Erkrankungen
Inzwischen sind laut Rososinska rund 8.000 seltene Erkrankungen
bekannt. «Es kommen immer neue dazu», sagte sie. Das liege auch
daran, dass immer mehr genetische Untersuchungen gemacht würden, die
dann mit Symptomen und Krankheitsbildern zusammengebracht würden.
Zudem wachse - auch politisch gewollt - das Interesse an den seltenen
Erkrankungen.
Bundesweit gibt es an Unikliniken 36 Zentren für seltene
Erkrankungen, sagte die Medizinerin. Untereinander sei man vernetzt
und tausche sich aus. Es gebe auch Fälle, die man weiter verweise,
weil Experten bekannt seien.
Zentrum hilft bei rund einem Drittel
An das Zentrum in Homburg wendeten sich Patienten, die bei der
Diagnose ihrer Krankheit nicht weiterkämen, sagte der Sprecher des
Zentrums, Robert Bals. Nach Sichtung der Unterlagen würden die Fälle
beim Verdacht auf eine seltene Erkrankung mit Fachkollegen der
Uniklinik besprochen. Dann werden diese entsprechend verteilt etwa
auf Neurologie, Orthopädie oder Kinderklinik.
Im Schnitt gebe es rund 70 Anfragen im Jahr an das Zentrum. In rund
einem Drittel der Fälle könne man bei der Diagnose helfen, sagte der
Professor für Innere Medizin und Pneumologie. Bei den übrigen stelle
sich heraus, dass es keine seltene Erkrankung sei - oder die
Diagnosefindung ziehe sich hin.
Die Patienten in Homburg kämen nicht nur aus dem Saarland, sondern
auch aus Rheinland-Pfalz, Nordrhein-Westfalen und Luxemburg. In
Spezialambulanzen würden am Uniklinikum jährlich viele Patienten, in
denen es schon eine Diagnose gebe, behandelt. Stationär seien es etwa
3.000 Fälle.
Bei der Suche «Dranbleiben»
Bei seltenen Erkrankungen gebe es kaum Therapien und Medikamente,
weil die Fallzahlen so gering sind, sagte Bals, der das Zentrum 2016
mitgegründet hat. Für nur drei Prozent dieser Erkrankungen stünden in
Deutschland zugelassene Medikamente zur Verfügung.
Rososinska sagte, man solle als Patient bei der Suche nach der
Diagnose «dranbleiben». Es könne sein, dass irgendwann ein neues
Symptom dazukomme, das dann zur Klärung beitragen könnte. Sie selbst
habe solche Fälle schon erlebt, sagte die 48-Jährige.
Patient Wittschier hat vieles versucht
Bernward Wittschier dagegen ist nach all den Jahren Suche resigniert.
«Ich habe alle Untersuchungen, die man machen kann, schon zigmal
gemacht», sagte er. Lumbalpunktion, Röhre, Nerventests. «Man hatte
bei mir schon so viele Verdachtsdiagnosen: Gehirntumor, Alzheimer,
Multiple Sklerose. War aber alles nichts.» Er habe auch sonst vieles
versucht: Spritzen, Cortison, Homöopathie.
Ein Gehirnspezialist habe zu ihm gesagt: «Herr Wittschier, dass Sie
eine deutliche Erkrankung haben, kann ich feststellen. Sie sind
wahrscheinlich einer von 10, 20 oder 30 Leuten in Deutschland, die so
etwas haben. Ich kann Ihnen aber nicht sagen, wo sie herkommt.»
Stiftung fördert Forschung
Seit 2006 setzt sich die Eva Luise und Horst Köhler Stiftung für eine
bessere medizinische Versorgung von Kindern, Jugendlichen und
Erwachsenen mit seltenen Erkrankungen ein. Vor allem die
Forschungsförderung ist der Stiftung ein Anliegen. «Mangels Forschung
fehlen wirksame Behandlungsansätze und Medikamente», teilte die
Stiftung mit.
Die Erkrankungen könnten genetischer, infektiöser oder
umweltbedingter Natur sein. 70 Prozent beginnen im Kindesalter,
andere entwickelten sich erst später.
Die Idee zur Stiftung entstand in der Familie des früheren
Bundespräsidenten, weil man vieles aus eigener Erfahrung kannte: «die
verzweifelte Suche nach Antworten» und «die jahrelange Odyssee von
Klinik zu Klinik» - und die «Hilflosigkeit angesichts fehlender
Behandlungsoptionen».
Deren Tochter leidet an einer seltenen Augenkrankheit, die zur
Erblindung führte. Experten schätzten laut Stiftung, dass jedes Jahr
bis zu 250 neue seltene Erkrankungen entdeckt werden.
Wunsch nach einem ganz normalen Tag
Wittschier sagte, er hoffe, dass eines Tages jemand erkenne, was er
habe. Oder wenigstens eine Ahnung oder Idee habe, was es sein könnte.
Sein größter Wunsch sei: «Einen Tag mal wieder ganz normal zu erleben
wie vor 20 Jahren. An dem ich alles spüre und schmecke.»
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