Apfel gut, Schoko böse: Wenn gesundes Essen Obsession wird Von Alice Lanzke, dpa

Gesunde Ernährung, die krank macht - dieses Paradox beschreibt
Orthorexie: die zwanghafte Beschäftigung damit, das vermeintlich
Richtige zu essen. Statt Genuss regiert ein strenges Regelwerk.

Berlin/Kiel (dpa) - Immer mehr Menschen legen großen Wert auf gesunde
Ernährung - doch bei einigen wird dieser Fokus zur Besessenheit.
Orthorexie beschreibt eine Fixierung auf «saubere» Ernährung, bei der

das Streben nach tatsächlich oder vermeintlich gesunder Kost das
Leben der Betroffenen bestimmt. Doch wo hört gesunde Ernährung auf,
und wo beginnt eine problematische Fixierung?

Was versteht man unter Orthorexie?

Einfach gesagt wird unter Orthorexie eine zwanghafte Fokussierung auf
gesundes Essen verstanden. Betroffene zeigen ein extremes
Essverhalten, bei dem die Gedanken ständig um die Qualität der
eigenen Ernährung kreisen. Allerdings ist Orthorexie bislang keine
offiziell anerkannte Störung. Entsprechend vorsichtig formuliert
Psychologin Friederike Barthels vom Institut für Therapie- und
Gesundheitsforschung (IFT-Nord): «Ein orthorektisches
Ernährungsverhalten ist definiert als eine möglicherweise
pathologische Fixierung auf gesunde Ernährung.»

«Für diese gesunde Ernährung werden ganz persönliche, subjektive
Maßstäbe angelegt», beschreibt Barthels, die sich seit über zehn
Jahren mit dem Phänomen beschäftigt. Tatsächlich ist das Spektrum der

möglichen Ernährungsweisen bei Menschen, die an Orthorexie leiden,
breit: Veganerinnen können ebenso betroffen sein wie Menschen, die
der «Carnivore Diät» folgen, also hauptsächlich Fleisch essen;
Rohköstler genauso darunter leiden wie jene, die auf die Keto-Diät
setzen. «Man wird nicht zwei Personen mit einer orthorektischen
Ernährungsweise mit einer Mahlzeit glücklich machen können», so die

Psychologin.

Orthorektisch wird ein Ernährungsverhalten dann, wenn das tatsächlich
oder vermeintlich gesunde Essen zum Lebensinhalt wird, die
entsprechende Planung der Mahlzeiten immer mehr Zeit verschlingt und
Lebensmittel immer rigoroser in Gut und Böse eingeteilt werden.
«Objektiv betrachtet ernähren sich einige Betroffene tatsächlich sehr

gesund», führt Barthels aus. «Andere nutzen aber vielleicht weniger
seröse Quellen, schränken ihre Ernährungsweise immer weiter ein,
sodass am Ende nur noch sehr wenig Lebensmittel gegessen werden.»
Dann könne Orthorexie auch körperlich zu einem Gesundheitsproblem
werden.

Warum ist Orthorexie keine offizielle Diagnose?

Orthorexie wird derzeit nicht als eigenständige Essstörung in
Klassifikationssystemen wie dem DSM-5 oder ICD-10 geführt. Das liegt
laut Psychologin Barthels auch daran, dass dafür nicht genügend Daten
vorliegen: «Störungsbilder werden erst nach langjährigen
Forschungsprozessen in den ICD-10 oder DSM-5 aufgenommen. Dafür sind
viele Studien nötig, die eindeutig zeigen: Wie sind die Symptome? Wie
ist die Prävalenz? Was sind Risikofaktoren? Und die haben wir für die
Orthorexie einfach noch nicht.»

Ferner sei wissenschaftlich durchaus umstritten, ob es sich um ein
eigenes Krankheitsbild handele: «Viele Stimmen sagen, dass es sich
eigentlich nur um eine Variante bekannter Essstörungen handele, also
einer Art Magersucht unter dem Deckmantel der gesunden Ernährung.»
Barthels sieht indes gravierende Unterschiede etwa zur Magersucht:
«Bei der Orthorexie geht es vor allem auch darum, sich zu ernähren,
während bei anderen Essstörungen der Verzicht auf Nahrung im
Mittelpunkt steht. Auch die Fokussierung auf ein schlankes Körperbild
sehen wir bei der Orthorexie nicht zwangsläufig.»

Nichtsdestotrotz sieht Barthels sowohl Argumente für als auch gegen
eine Aufnahme in entsprechende Klassifikationssysteme: Dafür spreche,
dass eine offizielle Diagnose auch zur Entwicklung von Fachbüchern
und Leitlinien für eine Therapie oder die Einrichtung spezieller
Behandlungszentren führen würde. Dann könnten Betroffene leichter
Hilfe finden.

Ebenso könnte es allerdings zu einer Pathologisierung von
Verhaltensweisen kommen, die eigentlich normal seien oder nur in
vorübergehenden Lebensphasen aufträten. Darüber hinaus sei eine
Orthorexie etwa für Menschen mit vorheriger Magersucht vielleicht
sogar eine Verbesserung: «Betroffene haben in vielen Therapien
gelernt, dass Essen wichtig und gut für den Körper ist, behalten aber
Kontrolle über ihr Essverhalten, indem sie sich möglichst gesund
ernähren - aufgrund der hohen Sterblichkeitsrate bei der Anorexie ist
es letztendlich besser, wenn die Person lernt, überhaupt etwas zu
essen, selbst, wenn das zwanghaft oder sehr eingeschränkt ist.»

Wie viele Menschen sind davon betroffen?

Ohne eindeutige Diagnosekriterien ist eine Antwort auf diese Frage
unmöglich. Psychologin Barthels schätzt die Prävalenz ähnlich wie b
ei
anderen Essstörungen ein. Das hieße deutlich unter ein Prozent der
Bevölkerung wären betroffen.

Für spezifische Gruppen in Deutschland - konkret:
Ernährungsberaterinnen und -berater sowie sportlich aktive
Studierende - haben ältere Studien teils deutlich höhere Zahlen
ergeben.

Was sind Warnzeichen für eine Orthorexie?

* Exzessive Beschäftigung mit Lebensmittelauswahl
* Stark eingeschränkte Ernährung, etwa durch den Ausschluss ganzer
Lebensmittelgruppen
* Soziale Isolation aufgrund der Essgewohnheiten, weil auf Essen in
gesellschaftlichen Kontexten wie Familienfeiern verzichtet wird
* Schuldgefühle oder Angst nach dem Verzehr «unerlaubter»
Lebensmittel
* Zeitaufwändige Planung und Vorbereitung von Mahlzeiten

«Ein weiteres wichtiges Warnzeichen ist, wenn die Ernährung das Leben
dominiert, und andere Bereiche wie Freundschaften oder Hobbys
vernachlässigt werden», betont Barthels.

Gibt es Risikofaktoren oder bestimmte Persönlichkeitstypen?

Orthorexie tritt laut Barthels eher bei perfektionistischen Menschen
und solchen mit einem hohen Bedürfnis nach Kontrolle auf. Auch
Zwangsstörungen oder Ängstlichkeit, zum Beispiel Angst vor
Krankheiten, könnten das Risiko erhöhen. «Viele Betroffene berichten,

dass sie sich durch ihre Ernährung besonders diszipliniert und
moralisch überlegen fühlen», erklärt Barthels. Ebenso könnten ein
e
frühere Essstörung oder ein hoher Stellenwert des Themas Ernährung in

der Familie Risikofaktoren sein. Insgesamt entwickle sich eine
Orthorexie oft schleichend, Betroffene würden mit der Zeit oft immer
strenger mit sich werden.

Welche psychologischen Mechanismen stehen dahinter?

Orthorexie kann als Bewältigungsstrategie für Stress oder
Unsicherheit dienen. «Das strikte Befolgen von Ernährungsregeln
vermittelt ein Gefühl von Kontrolle und Sicherheit», sagt Barthels.
Ein weiterer Faktor könne Angst vor Krankheiten sein. Oft hätten
Betroffene auch eine sehr perfektionistische Vorstellung davon, was
Gesundheit bedeutet: «Ich muss mich jeden Tag hundert Prozent perfekt
fühlen, was natürlich unrealistisch ist.»

Und schließlich werde die Bedeutung von Ernährung oft überschätzt,
so
die Expertin weiter: «Natürlich ist es nicht gut, wenn ich mich jeden
Tag nur von Schokolade ernähre, aber wenn ich jeden Tag einen
Schokoriegel esse, wird das meine Gesundheit auch nicht massiv
beeinträchtigen.» Menschen mit orthorektischem Ernährungsverhalten
neigten indes dazu, diesen einzelnen Ereignissen sehr große Bedeutung
beizumessen.

Welche Rolle spielen soziale Medien?

Wissenschaftlich betrachtet wird die Bedeutung sozialer Medien
ambivalent gesehen: So zeigen einige Arbeiten, dass Betroffene durch
die Vernetzung mit anderen ein Problembewusstsein entwickeln und sich
gegenseitig darin unterstützen, ihre Essstörung zu überwinden.

Daneben gibt es aber durchaus Studien, die den negativen Effekt
unterstreichen, den das ständige Betrachten definierter und dünner
Körper der Fitness-Influencer auf Instagram und anderen Plattformen
hat. «Letztendlich werden diese aber niemanden orthorektisch machen»,
sagt Barthels. Vielmehr müsse dafür eine Prädisposition vorliegen,
die dann vielleicht verstärkt werde.

Welche therapeutischen Ansätze sind wirksam?

Laut Psychologin Barthels kann eine an Essstörungstherapien
angelehnte Behandlung hilfreich sein sowie je nach individuellem Fall
auch eine Ernährungsberatung. Dabei sei aber wichtig, nicht gegen das
Wertesystem der betroffenen Person zu arbeiten: «Einem Veganer im
Zuge der Beratung Fleisch zu empfehlen, ist dann nicht hilfreich.»
Ebenso könnten Betroffene psychotherapeutische Entlastung brauchen,
weil die Orthorexie etwa eine Reaktion auf Stressoren in ihrem Leben
sei.

Letzten Endes gehe es darum, wieder einen entspannten Umgang mit der
eigenen Ernährung zu finden und wieder Freude am Essen mit Freunden
oder Hobbys zu finden, sagt Barthels: «Es ist ja nicht nur das Essen,
was dann darüber entscheidet, wie gut es einem letztendlich geht und
wie gesund man ist.»

Online-Wechsel: In drei Minuten in die TK

Online wechseln: Sie möchten auf dem schnellsten Weg und in einem Schritt der Techniker Krankenkasse beitreten? Dann nutzen Sie den Online-Beitrittsantrag der TK. Arbeitnehmer, Studenten und Selbstständige, erhalten direkt online eine vorläufige Versicherungsbescheinigung. Die TK kündigt Ihre alte Krankenkasse.

Jetzt der TK beitreten





Zur Startseite