Was steckt in einem winzigen Würfel Mäusehirn?

Denken, Emotionen, Bewusstsein - wie das Gehirn funktioniert,
verstehen wir erst in Ansätzen. Für ein Ministück Hirngewebe haben
Forscher nun Zelle für Zelle erkundet, wie sie verschaltet sind.

Seattle (dpa) - Ein Kubikmillimeter - das ist etwa so viel wie ein
winziger Mohnsamen. Wie viele Nervenzellen hat wohl ein so winziger
Würfel Mäusegehirn? Unfassbare rund 84.000 Neuronen, wie Teams von
insgesamt mehr als 150 Forschenden in einer Serie aufeinander
aufbauender Studien berichten. Außerdem gebe es etwa eine halbe
Milliarde Kontaktstellen zwischen Nervenzellen - Synapsen genannt -
und rund 5,4 Kilometer neuronale Verdrahtung, heißt es.

Das entstandene Schaltbild und die dazugehörigen Daten haben eine
Größe von 1,6 Petabyte - was 22 Jahren ununterbrochener
HD-Videowiedergabe entspricht, wie es vom beteiligten Allen
Institute, einer gemeinnützigen Forschungseinrichtung, heißt. Obwohl
nur eine sandkornkleine Gewebeprobe untersucht wurde, helfe der
vollständige funktionelle Schaltplan dieses Hirnwürfels zu
beschreiben, wie das Gehirn insgesamt organisiert ist und wie
verschiedene Zelltypen zusammenarbeiten.

Die Ergebnisse des Gemeinschaftsprojekts «Microns» (Machine
Intelligence from Cortical Networks) wurden in «Nature»-Fachjournalen
veröffentlicht. Generell bestehen Gehirne aus einem Netzwerk von
Zellen, einschließlich der Neuronen, die durch Reize aktiviert und
durch Synapsen verbunden werden. Grundlage kognitiver Funktionen ist
das Zusammenspiel zwischen neuronaler Aktivierung und der Vernetzung
der Zellen.

Ein Pionier hielt das für unmöglich

1979 hatte der berühmte Molekularbiologe Francis Crick (1916-2004)
dem Allen Institute zufolge erklärt, es sei unmöglich, einen genauen
Schaltplan auch nur für einen Kubikmillimeter Hirngewebe und die Art
und Weise, wie alle seine Neuronen feuern, zu erstellen. In den
letzten sieben Jahren habe das weltweite «Microns»-Team dieses Ziel
nun realistischer werden lassen. Crick hatte mit James Watson und
Maurice Wilkins das berühmte Doppelhelix-Modell der Erbgutsubstanz
DNA entwickelt, ein Meilenstein in der Biologie.

Die «Microns»-Wissenschaftler zeichneten zunächst mit speziellen
Mikroskopen die Aktivität von rund 75.000 Neuronen in einem einen
Kubikmillimeter großen Teil des visuellen Kortex einer Maus auf, die
über Tage hinweg verschiedene Videoaufnahmen vorgespielt bekam. Das
Tier war genetisch so verändert, dass seine Neuronen ein
fluoreszierendes Protein aussendeten, wenn sie aktiv waren.

Anschließend wurde die Maus getötet und derselbe Kubikmillimeter des
Gehirns wurde in rund 28.000 Schichten - also unglaublich dünne
Scheibchen zerlegt. Von jeder Schicht wurden hochauflösende Bilder
angefertigt. Ein anderes Team wiederum setzte Künstliche Intelligenz
und maschinelles Lernen ein, um die Zellen und Verbindungen in 3D zu
rekonstruieren.

Bisher größter Schaltplan des Gehirns

Zusammen mit den Aufzeichnungen der Hirnaktivität war das Ergebnis
der bisher größte Schaltplan des Gehirns, wie das Allen Institute
mitteilte. Insgesamt mehr als 200.000 Zellen, davon etwa 84.000
Neuronen, 524 Millionen synaptische Verbindungen und mehrere
Kilometer Axone - Verzweigungen, die zu anderen Zellen führen - seien
identifiziert worden. Unter anderem im Bereich der Axone würden die
gewaltigen Datensätze derzeit weiter geprüft und verbessert.

Die Ergebnisse böten neue Möglichkeiten zur Untersuchung des Gehirns,
hieß es von der Forschungseinrichtung. Das betreffe auch Krankheiten
wie Alzheimer, Parkinson, Autismus und Schizophrenie, bei denen die
neuronale Kommunikation gestört ist. «Wenn man ein kaputtes Radio hat
und den Schaltplan kennt, kann man es besser reparieren», sagte
Mitautor Nuno da Costa. In Zukunft könne mit der Blaupause die
Gehirnverdrahtung in einer gesunden Maus mit der in einem
Krankheitsmodell verglichen werden.

Zu den überraschendsten Erkenntnissen der Teams gehörte den Angaben
zufolge die Entdeckung eines neuen Prinzips der Hemmung im Gehirn.
Bisher sei angenommen worden, dass hemmende Zellen - also solche, die
neuronale Aktivität unterdrücken - einfach direkt die Wirkung anderer
Zellen dämpfen. Tatsächlich sei das Geschehen komplexer: Hemmende
Zellen sprächen Zielzellen teils sehr selektiv in einem System der
Koordination und Kooperation an. Einige hemmende Zellen arbeiten
zusammen und unterdrücken mehrere erregende Zellen, während andere
präziser nur bestimmte Typen ansprechen, wie die Forschenden
erläutern.

Abweichungen von Art zu Art und Tier zu Tier?

Zu den Einschränkungen der Analysen zählt demnach, dass die Daten von
einem einzigen Tier einer einzigen Art stammen und daher zunächst nur
eingeschränkt verallgemeinerbar sind. Zudem enthielten sie von
bestimmten Zelltypen jeweils nur wenige Exemplare.

Der visuelle Kortex von Mäusen habe Ähnlichkeiten mit dem anderer
Säugetiere einschließlich des Menschen, erläutern die Forschenden
auch. Es handle sich aber nur um eine kleine Region des Gehirns. Um
komplette Schaltkreise zu untersuchen, seien umfassendere Karten
erforderlich - wofür aber Technik und Methoden erst weiter verbessert
werden müssten.

«Trotz dieser Einschränkungen stellt diese Arbeit einen großen
Schritt nach vorn dar und bietet eine unschätzbare
Gemeinschaftsressource für zukünftige Entdeckungen in den
Neurowissenschaften», schreiben Mariela Petkova und Gregor
Schuhknecht von der Harvard University in Cambridge in einem
begleitenden Kommentar in «Nature». Das «Microns»-Projekt sei der
bisher am umfassendsten zusammengestellte Datensatz, der die
Gehirnstruktur mit der neuronalen Aktivität eines aktiven Säugetieres
verbinde.

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