Risikostrukturausgleich ist verfassungsgemäß
Bundesverfassungsgericht wies Normenkontrollklage ab
Die Finanztransfers von westdeutschen auf ostdeutsche Krankenkassen in Milliardenhöhe sind mit dem Grundgesetz vereinbar. Das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe wies in einem am Mittwoch veröffentlichten Beschluss eine Normenkontrollklage Baden-Württembergs, Bayerns und Hessens gegen den so genannten Risikostrukturausgleich ab. Die gut zehn Jahre alte Regelung, mit der die unterschiedliche Finanzkraft der gesetzlichen Krankenkassen ausgeglichen werden soll, diene dem sozialen Ausgleich und sei mit dem Grundsatz der Gleichbehandlung in Artikel drei Grundgesetz vereinbar, befand der Zweite Senat. (Aktenzeichen: 2 BvF 2/01 - Beschluss vom 18. Juli 2005)
Nach den Worten der Karlsruher Richter wäre bei einem völligen Verzicht auf den Risikostrukturausgleich der beabsichtigte Wettbewerb zwischen den Krankenkassen nicht gewährleistet. Denn dann würden sie um einkommensstarke Mitglieder mit niedrigem Krankheitsrisiko werben, statt durch Effizienzverbesserung ihre Kosten zu senken.
Zwar führe der Ausgleich dazu, dass die Beiträge im Westen - verglichen mit einem System ohne Finanztransfers - um durchschnittlich 0,19 Prozentpunkte höher liegen. Ostdeutsche Kassen würden dadurch um rund einen Prozentpunkt entlastet. Solche Ungleichbehandlungen seien aber zur Solidaritätssicherung unter den Kassen gerechtfertigt. Durch den Risikostrukturausgleich werde der "klassische Solidarausgleich zwischen Einkommensstarken und Einkommensschwachen, Jungen und Alten, Alleinstehenden und Unterhaltspflichtigen kassenübergreifend umgesetzt".
Das Argument der durch den Tübinger Rechtsprofessor Ferdinand Kirchhof - Bruder des potenziellen CDU-Finanzministers Paul Kirchhof - vertretenen Kläger, regionale Unterschiede müssten berücksichtigt werden, wiesen die Karlsruher Richter als unpraktikabel zurück. Auch ein Eingriff in die Finanzautonomie der Länder liege nicht vor, weil die - streng zweckgebundenen - Sozialversicherungsbeiträge ohnehin nicht zum finanzwirtschaftlichen Verteilungsmechanismus zwischen Bund und Ländern gehörten.
"Die Regelungen des Risikostrukturausgleichs in der GKV sind mit dem Grundgesetz vereinbar. Der Risikostrukturausgleich verwirklicht den sozialen Ausgleich in der gesetzlichen Krankenversicherung im Einklang mit dem allgemeinen Gleichheitssatz kassenübergreifend und bundesweit. Auch die Einbeziehung der ostdeutschen Versicherten in den gesamtdeutschen Solidarverband der gesetzlichen Krankenversicherung dient der Verwirklichung des für die Krankenversicherung charakteristischen sozialen Ausgleichs", heißt es in der BVG-Mitteilung zur Abweisung der Klage. Der Zweite Senat stellte außerdem fest, dass der Bund das Gesetzgebungsrecht für den RSA habe. "Die Bestimmungen der bundesstaatlichen Finanzverfassung", so das BVG weiter, "stehen dem RSA in der GKV nicht entgegen."
Ein Verzicht auf den RSA oder dessen Befristung könne den vom Gesetzgeber gewollten Kassenwettbewerb nicht gewährleisten, so das BVG: "In einem System ohne RSA ist es für eine Krankenkasse unter finanziellen Gesichtspunkten sehr viel attraktiver, die Zusammensetzung der Versicherten durch Risikoselektion (Anwerben von Menschen mit niedrigem Krankheitsrisiko) günstig zu gestalten, als positive Kosteneffekte durch Effizienzverbesserung zu generieren. Der Gesetzgeber wollte aber nicht einen Wettbewerb um die besten Risikoselektionsstrategien initiieren; die Kassen sollten vielmehr ermuntert werden, über Möglichkeiten der Effizienzverbesserung nachzudenken."
Der Zweite Senat des BVG bestätigte auch die Vereinbarkeit des Gesetzes zur RSA-Reform vom Dezember 2001 mit dem Grundgesetz: "Die mit dem Reformgesetz bewirkte Einführung des direkt morbiditätsorientierten Risikostrukturausgleichs begegnet keinen verfassungsrechtlichen Bedenken. Der Gesetzgeber verfolgt legitime Ziele, weil er hierdurch den Solidarausgleich zwischen Gesunden und Kranken verbessern und insbesondere Risikoselektion zulasten von - chronisch - Kranken vermeiden will."
Laut BVG hat der Gesetzgeber auch mit der Einführung strukturierter Behandlungsprogramme für chronisch kranke Menschen (Disease-Management-Programm) rechtlich einwandfrei gehandelt: "Mit der Zuweisung eines speziellen Beitragsbedarfs zur Durchführung der strukturierten Behandlungsprogramme haben die Kassen einen finanziellen Anreiz, entsprechende Programme aufzulegen und so die Qualität der Versorgung chronisch kranker Menschen zu verbessern."
Stichwort: Risikostrukturausgleich
Der 1994 eingeführte Risikostrukturausgleich (RSA) soll für einen finanzielle Ausgleich zwischen «armen» und «reichen» Krankenkassen sorgen. Damit sollten - parallel zur Einführung der Wahlfreiheit in der gesetzlichen Krankenversicherung - Wettbewerbsverzerrungen behoben werden, die sich aus der unterschiedlichen, durch Pflichtmitgliedschaften geprägten Mitgliederstruktur der Kassen ergaben.
So bildeten die Arbeiter, die im Schnitt weniger verdienten und häufiger arbeitslos waren, die Hauptklientel der Allgemeinen Ortskrankenkassen (AOK), die damit über weniger Einnahmen verfügten als etwa Angestellten-, Betriebs- oder Ersatzkassen. Die Folge waren erhebliche Beitragsunterschiede.
Da der RSA an standardisierte Ausgaben der Kassen und nicht an die tatsächlichen Kosten anknüpft, bietet er einen Anreiz, etwa durch Senkung der Verwaltungskosten unter den Vorgaben zu bleiben. Seine finanzielle Bedeutung ist enorm: 2002 wurden insgesamt 14,3 Milliarden Euro zwischen den Kassen transferiert. Die stärksten «Zahler» waren mit 8,4 Milliarden Euro die Betriebskrankenkassen, bei den «Nehmern» standen mit 12,4 Milliarden die AOK ganz oben.
Ende der 90er Jahre wurde der - ursprünglich zwischen Ost und West getrennt vorgenommene - RSA schrittweise auf Deutschland erstreckt. Denn wegen hoher Arbeitslosigkeit und geringerem Durchschnittsverdienst lagen die Einnahmen der Kassen in den neuen Ländern deutlich niedriger. 2001 betrug der Transfer von West nach Ost rund zwei Milliarden Euro; für das laufende Jahr wird er auf 3,4 Milliarden geschätzt.
Mit einer 2001 verabschiedeten Reform wird der RSA von 2007 an fortentwickelt. Dadurch sollen die unterschiedlichen Gesundheitszustände verschiedener Gruppen von Versicherten - vor allem chronisch kranker Menschen - stärker berücksichtigt werden.